Epidemiologie

 

Prävalenz

Geschlechtsverteilung

Stellung in der Geschwisterreihe

Intelligenz autistischer Kinder

 

Prävalenz

Epidemiologische Studien können auf der Grundlage bestimmter, spezifizierter Verhaltenskriterien durchgeführt werden. Das mag zunächst willkürlich erscheinen, da man nur dann von einem identifizierten Syndrom sprechen kann, wenn die konstituierenden Symptome wirklich vereint auftreten. Eine statistische Erhebung kann jedoch feststellen, ob dies der Fall ist. Sie kann einen darüber informieren, in welchem Maße die Symptome zwischen den Individuen variieren, welche Symptome zuverlässig festgestellt werden können und welche nicht und welches die frühesten diagnostischen Zeichen sind. Ergebnisse aus großangelegten Untersuchungen sind eine wichtige Ergänzung zu den detaillierten Ergebnissen aus Einzelfallstudien. (FRITH 1992, 63)

1966 schloss VICTOR LOTTER die erste epidemiologische Feldstudie über Autismus in einem geographisch begrenzten Gebiet ab. LOTTER unterzog zunächst alle Kinder zwischen acht und zehn Jahren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Grafschaft Middlesex wohnten, einem Screening. Es handelte sich dabei um insgesamt etwa 78 000 Kinder. LOTTER verschickte an Lehrer und andere beruflich mit Kindern dieses Alters befasste Personen Fragebögen und ermittelte so zunächst alle Kinder, die möglicherweise autistisch waren. Dann konsultierte er Krankenblätter und führte Einzelinterviews. Auf diese Weise konnte er 135 Verdachtsfälle identifizieren, die er einer sehr gründlichen Einzelprüfung unterzog. Nach mehreren Durchgängen ermittelte er schließlich eine Gruppe von 35 Kindern, die den ursprünglich von KANNER beschriebenen Fällen ähnelten. Er stellte damit eine Prävalenz von 4,5 auf 10 000 Kinder im Alter von acht bis zehn Jahren fest. Das Geschlechtsverhältnis betrug 2,6 Jungen auf ein Mädchen.

Alle 35 Kinder in der Endgruppe zeigten dauerhaft fehlenden affektiven Kontakt und zwanghaftes Beharren auf Eintönigkeit, und diese Symptome waren vor dem Alter von fünf Jahren aufgetreten. LOTTER teilte diese Gruppe in zwei Untergruppen auf, von denen eine diese Merkmale ausgeprägt, die zweite in geringerem Maße aufwies. Auf diese Weise trennte er eine "Kerngruppe" von einer "Peripheriegruppe". Die Kerngruppe bestand aus 15 Kindern (Prävalenz zwei auf 10 000)., die zweite aus 20 Kindern. Der Jungenüberschuss war in der Kerngruppe größer (2,8:1) als in der Peripheriegruppe (2,4:1).

Außer diesen Kindern gab es 26 weitere, bei denen die beiden klassischen Autismusmerkmale noch schwächer ausgeprägt waren. Zudem gab es eine beträchtliche Anzahl schwer retardierter Kindern, die stumm und kontaktgestört waren. Man kann davon ausgehen, dass LOTTERs Kernfälle Musterbeispiele für Autismus nach KANNERs Beschreibung darstellten. Es ist jedoch klar, dass es eine große Anzahl weniger typische Fälle gibt. Von Klinikern, die sich weniger streng an KANNERs Kriterien orientieren, werden diese möglicherweise als autistisch diagnostiziert. Daher ist eine hohe Prävalenz zu erwarten, wenn sowohl leichte als auch schwere Fälle erfasst werden. Dies geschah in einer gut kontrollierten Studie in Neuschottland von BRYSON/CLARK/SMITH (1988). 20 800 Kinder zwischen 6 und 14 Jahren wurden einem ausführlichen Screening unterzogen, aufgrund dessen 21 Kinder als autistisch eingestuft wurden. Das entspricht einer Häufigkeit von 10 auf 10 000, gegenüber früheren Schätzungen also eine Verdopplung.

In der Bundesrepublik Deutschland gab es im Jahre 1991 ca. 12 639 000 Kinder unter 15 Jahren bei einer Gesamtbevölkerung  von 79 Millionen Menschen (STATISTISCHES BUNDESAMT 1992). Man geht davon aus, dass ungefähr ein Drittel der Kinder bis 15 unter 6 Jahre alt sind und zwei Drittel älter. Auf 10 000 Kinder kommen nach DZIKOWSKI (1993, 12) 4 bis 5 mit frühkindlichem Autismus, und so ergeben sich für die einzelnen Altersbereiche folgende statistischen Häufigkeiten: 

Altersbereich

Häufigkeit insgesamt Häufigkeit im früheren Bundesgebiet Häufigkeit im Gebiet der ehem. DDR
0 bis 18 Jahre ca. 6220 ca. 4670 ca. 1550
0 bis 6 Jahre ca. 1896 ca.1415 ca. 481
6 bis 15 Jahre ca. 3792 ca. 2831 ca. 961

Tab. 1 Prävalenzwerte bezogen auf Kinder mit frühkindlichem Autismus in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1991

Insgesamt leben in der Bundesrepublik laut DZIKOWSKI (1993, 12) schätzungsweise 30 000 bis 35 000 autistische Menschen, wobei aber nur ein Bruchteil bekannt sind.

 

Geschlechtsverteilung

Längsschnittuntersuchungen, die sich mit der Geschlechtsverteilung autistischer Kinder befassten, kamen zu dem Ergebnis, dass unverhältnismäßig viele Jungen als autistisch bezeichnet werden können. Den Anstoß für diese Untersuchungen gab bereits KANNER, der bei den von ihm untersuchten Kindern eine Geschlechtsverteilung von 4:1 feststellen konnte.

In der Bundesrepublik ergaben Längsschnittuntersuchungen eine Geschlechtsverteilung von 4:1 (LEMPP 1973) und bei MISEK (1982) 2 bis 3:1.

Eine Studie, die dieses Thema in einer anderen Weise beleuchtet, führen LORD, SCHOPLER und REVICKI (1982) durch. Die Autoren berichteten von Ergebnissen aus einer der größten je zusammengestellten Stichprobe autistischer Kinder: 384 Jungen und 91 Mädchen im Alter zwischen 3 und 8 Jahren. Diese Stichprobe wurde an der Universitätsklinik von North Carolina in Chapel Hill identifiziert; sie umfasste nicht nur Kernfälle von Autismus, sondern auch solche, die weniger ausgeprägte autistische Symptome zeigten. Alle Kinder wurden zwischen 1975 und 1980 vorgestellt und mittels psychologischer Tests und Interviews, die die Entwicklungsstufe jedes Kindes berücksichtigten, gründlich untersucht. Das Verhältnis von Jungen zu Mädchen betrug 5:1 am höheren Ende der Begabungsskala und 3:1 an deren unteren Ende.

Man kann dieses Ergebnis auch anders interpretieren: Die autistischen Mädchen waren im Durchschnitt bei fast jeder getesteten Fähigkeit schwerer beeinträchtigt als die autistischen Jungen. Die Mädchen erreichten einen nonverbalen Durchschnitts-IQ von 40,  bei den Jungen lag er bei 44, beides sehr niedrige Werte. Obwohl sie sich nur um einige Punkte unterscheiden, zeigen diese Durchschnittszahlen eine signifikante Verschiebung an, da sie auf ziemlich großen Gruppen basieren. Ganz ähnlich erzielten die Mädchen auch bei der Prüfung einfacher Aufgaben des täglichen Lebens schlechtere Ergebnisse, ebenso bei Sprach- oder Wahrnehmungstests. In Hinsicht auf Spiel, Affekt oder Beziehungsfähigkeit schnitten die Mädchen allerdings genauso schlecht, also nicht schlechter ab als die Jungen. Dieses Ergebnis ist wichtig, denn es spricht dafür, dass diese speziellen Merkmale, die für Autismus entscheidend sind, relativ unabhängig von der intellektuellen Leistungsfähigkeit und von erworbenen Fertigkeiten bestehen. Außerdem weist dieses Ergebnis darauf hin, dass es ungerechtfertigt ist, die Mädchen in dieser Studie für "autistischer" zu halten als die Jungen. Vielmehr haben sie offenbar schwerere zusätzliche Probleme (FRITH 1992, 65).

Auch  LORNA WING (1981) schloss aufgrund einer großangelegten epidemiologischen Studie in London, dass das Geschlechtsverhältnis mit den Fähigkeiten steigt. Auf der niedrigsten Stufe betrug das Verhältnis von Jungen und Mädchen nur 2:1. Das war vergleichbar mit dem Verhältnis bei gleichermaßen schweren geistigen Behinderungen - Kindern mit Down-Syndrom und Gehirnlähmung. Auf den höchsten Stufen wies WINGs Stichprobe ein Verhältnis von 15:1 auf!

Der Jungenüberschuss findet sich durchgängig in allen Studien, und die Seltenheit von Mädchen auf den mittleren und höchsten Intelligenzstufen ist ein typischer Hinweis auf den biologischen Ursprung von Autismus. (FRITH 1992, 65)

 

Stellung in der Geschwisterreihe

Untersucht man die Stellung autistischer Kinder in der Geschwisterreihe, so scheint der frühkindliche Autismus gehäuft bei den Erstgeborenen aufzutreten. (KANNER 1954; CREAK/INI 1960; RIMLAND 1964; RUTTER 1967)

Bei größeren Geschwisterzahlen ist die Auftretenswahrscheinlichkeit autistischer Kinder in der zweiten Hälfte der Geschwisterreihe höher. (LOTTER 1966) Diese Befunde werden von PITTFIELD und OPPENHEIM (1964) und J. K. WING (1973) bestätigt, zeigen jedoch bei Familien mit zwei Kindern eine Häufung bei den Erstgeborenen.  Ein viel größeres Datenmaterial ist aufgrund der Unterlagen der Society for Autistic Children verfügbar, deren Mitglieder vor dem Beitritt einen Fragebogen über ihre Kinder ausfüllen. Aus diesen Unterlagen ergibt sich ein ganz ähnliches Ergebnis wie bei PITTFIELD und OPPENHEIM: bei zwei Geschwistern ist häufiger das ältere autistisch, von drei Geschwistern an ist es dagegen häufiger ein Kind in der zweiten Hälfte der Geschwisterreihe (J. K. WING 1993, 43).

Intelligenz autistischer Kinder

Drei Viertel der Population autistischer Kinder in Middlesex waren geistig behindert, ebenso drei Viertel der Population in Neuschottland. Im Rahmen einer Nachuntersuchung führten RUTTER und LOCKYER (1967) nach zehn Jahren an einer Stichprobe von 63 autistischen Kindern in London umfassende psychometrische Tests durch. Der Anteil schwer retardierter Kinder (IQ unter 50) in dieser Stichprobe lag bei 40 Prozent, der Anteil mäßig retardierter (IQ zwischen 50 und 70) bei 30 Prozent. 30 Prozent de Kinder hatten einen IQ über 70. Nur die Hälfte dieser letzten Gruppe hatten einen IQ, den man im Bereich des normalen Durchschnitts ansiedeln könnte. 1985 veröffentlichten FREEMAN, RITVO und Mitarbeiter an der University of California eine Längsschnittstudie an 62 Kindern zwischen 2 und 6 Jahren, die über 5 Jahre hinweg jährlich getestet würden. 77 Prozent der Kinder aus ihrer Stichprobe erreichten IQ-Werte, die einer Retardierung entsprachen, diese Werte blieben mit wenigen Ausnahmen und trotz der Teilnahme an verschiedenen Fördermaßnahmen stabil. Da diese und andere Studien eine bemerkenswerte Übereinstimmung zeigten, kann man daraus schließen, dass etwa drei von vier autistischen Kindern zusätzlich zu ihrem Autismus an einer geistigen Behinderung leiden.

Die Stichprobe von 475 autistischen Kindern aus North Carolina stellt eine gewissen Ausnahme dar. Hier hatten nur 16 Prozent einen IQ über 70 und nur 7 Prozent einen IQ über 80. Eine Ausnahme in der entgegengesetzten Richtung bildet eine Westberliner Stichprobe autistischer Kinder, die anders als die aus North Carolina nur Kernfälle umfasste (STEINHAUSEN/GOBEL/BREINLINGER/WOHLLEBEN 1986). Hier stellte man sogar bei über 33 Prozent einen IQ von 85 und darüber fest. Das ist der höchste bisher berichtete Anteil nicht lernbehinderter autistischer Kinder, doch natürlich sind sie damit insgesamt immer noch stark in der Minderzahl. Die enge Verbindung von Autismus und geistiger Behinderung ahnten KANNER und ASPERGER noch nicht, und in manchen Lagern findet sich gelegentlich immer noch Widerstand gegen diese Einsicht.

Geistige Retardierung ist ein sicheres Zeichen für eine Hirnschädigung biologischen Ursprungs. Wie verhält es sich jedoch mit dem kleinen Anteil von Kindern, die bei den üblichen IQ-Tests keine intellektuelle Behinderung aufweisen? Es ist vorstellbar, wie GOLDSTEIN und LANCY (1985) vermuteten, dass die IQ-Testwerte der autistischen Population dieselbe Form hat wie die der Normalbevölkerung, nur dass der Mittelwert um ungefähr 50 niedriger liegt. Dieser niedrige Mittelwert wäre auf eine Hirnschädigung zurückzuführen, es gäbe aber immer noch einige Kinder mit relativ hohen Werten. Wenn diese Einschätzung richtig ist, dann würden auch die begabtesten autistischen Kinder Leistungsminderungen zeigen - im Vergleich zu ihrer hypothetischen Leistungsfähigkeit, das heißt, wenn sie nicht autistisch wären. Das könnte stimmen, da selbst die intelligentesten autistischen Kinder die extrem hohen IQ-Werte, die manche hochbegabte, "normale" Kinder erzielen können, nicht erreichen. (FRITH 1992, 66)