Geschichte

Um den Autismus zu verstehen, ist es notwendig, seine Geschichte zu betrachten.

LEO KANNER, ein Psychiater in Harvard, veröffentlichte 1943 eine Studie, in der er an 11 Fallbeispielen die Theorie einer seit frühester Kindheit bestehenden, autistischen Störung des affektiven Kontaktes entwickelte. Diese Störung benannte KANNER als "early infantil autism". (LOEBEN-SPRENGEL et al. 1981, 19) Er führt eine Anzahl von Merkmalen auf, die nach seiner Theorie geeignet sein sollten, Kindern mit dieser Behinderung zu erkennen (AARONS/GITTENS 1994, 20):

1)  Eine Unfähigkeit, Beziehungen aufzubauen                                                                      Das bedeutet, dass ein autistisches Kind Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen und größeres Interesse an Gegenständen als an menschlichen Wesen zeigen wird.

2)  Verzögerung in der Entwicklung der Sprache                                                                 Obwohl einige autistische Kinder stumm bleiben, erwerben andere die Sprache, aber fast immer wesentlich später als Kinder mit normaler Entwicklung             
3)  Nicht-kommunikativer Gebrauch der gesprochenen Sprache                                         Damit wird eine Besonderheit beschrieben, die für autistische Kinder charakteristisch ist. Obwohl sie über die passenden Wörter verfügen, haben sie Schwierigkeiten, diese in einer sinnvollen Unterhaltung zu benutzen.
4)  Verzögerte Echolalie                                                                                                     Tendenz zur Wiederholung von Wörtern und Wortverbindungen, die bei autistischen Kindern weit verbreitet ist.
5)  Vertauschung von Pronomen                                                                                         Die Kinder setzen "du" für "ich" ein. Beispiel: Mutter: "Möchtest Du einen Keks?" Kind: "Du möchtest einen Keks!"
6)  Wiederholendes und stereotypes Spiel                                                                            Im typischen Fall ist das Spiel autistischer Kinder sehr begrenzt. Sie neigen dazu, ein und dieselbe Aktivität zu wiederholen, und gelangen nicht auf die Stufe des phantasievollen, vorstellenden Spiels
7)  Widerstand gegenüber Veränderungen                                                                          Damit wird der starke Widerstand vieler autistischer Kinder über Veränderungen in ihrer Umwelt und im Tagesablauf beschrieben.
8)  Gutes Tatsachengedächtnis                                                                                           Viele autistische Kinder zeigen bemerkenswerte Leistungen im Behalten und Auswendiglernen.
9)  Normale körperliche Erscheinung                                                                                    Es war dieses letzte Merkmal, das KANNER zu der Meinung veranlasste, autistische Kinder hätten unterschiedslos eine normale Intelligenz - ein Eindruck, der erst verhältnismäßig spät wiederlegt wurde.

Später verringerte KANNER diese Symptomliste auf zwei zentrale Eigenschaften:

1. Die Unfähigkeit von Geburt an, sich in üblicher Form mit anderen Personen in Verbindung zu setzen, d.h. ein extremer Grad von Selbstisolation.
2. Ein ängstliches Beharren auf Gleicherhaltung der Umwelt sowohl der räumlichen als auch der zeitlichen Ordnung.

Trotz der Vielfalt der individuellen Unterschiede, die in den Fallbeschreibungen auftraten, war KANNER überzeugt, dass nur zwei Merkmale zentrale Bedeutung hätten. Das heißt, er hielt sie für notwendig und hinreichend für die Diagnose "Autismus". Diese Kennzeichen beziehen sich nicht direkt auf das Verhalten, sondern auf psychologische Probleme auf einer so tiefen Ebene, dass sie breites Spektrum von Verhaltensweisen erklären. (FRITH 1992, 21)

Das Hauptmerkmal - dasjenige, das der Störung den Namen gegeben hat - ist die autistische Isolation (autistic aloneness), die nicht mit einer einzelnen Verhaltensweise gleichgesetzt werden kann, sie ist nur aus dem Verhalten erschließbar. Autistische Isolation hat nichts zu tun mit physischem Alleinsein, aber mit psychischem Alleinsein.

Das zweite Kardinalsmerkmal bezeichnet KANNER als zwanghaftes Beharren auf Eintönigkeit (obsessive on sameness). Wiederum schließt KANNER auf eine Eigenschaft auf tieferer Ebene. Diese Eigenschaft setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen: monotones Wiederholen, Rigidität, Engstirnigkeit, Pedanterie und Unfähigkeit, die Bedeutung feiner Unterschiede zu beurteilen. (ebd.)

Zur gleichen Zeit und ohne Kenntnis des KANNERschen Syndroms veröffentlichte der Wiener Psychiater HANS ASPERGER (1944) eigene Untersuchungen über "autistische Psychopathie". Für ASPERGER handelt es sich hierbei um eine erbbedingte Charaktervariante.

Kinder mit dieser Krankheit, deren Störung im gesamten Lebenslauf beobachtbar bleibt, werden meist erst im 3. Lebensjahr auffällig. Eine emotional-affektive Hemmung sowie Tendenz zur Abkapselung und Selbstisolierung wird auch bei ihnen festgestellt. Scheinen für die Kinder mit frühkindlichem Autismus nach KANNER Menschen ihrer Umgebung nicht zu existieren, empfinden diese Kinder die Gegenwart anderer als störend. ASPERGER betont, "dass man nie recht sagen kann, ob ihr Blick in weite Ferne oder nach innen geht, so wie man nie recht weiß, womit sich die Kinder gerade beschäftigen oder was in ihnen vorgeht". (vgl. FEUSER 1977, 70)

Wenn auch zum Kennzeichen der von ASPERGER beschriebenen Kinder eine sehr frühe sprachschöpferische Fähigkeit gehört, und sie sich gerade darin von den frühkindlichen Autisten unterscheiden, so sind laut ASPERGER doch auch die "kontaktschaffenden Ausdruckserscheinungen der Sprache" gestört. Die Besonderheiten ihrer Sprache, wie Wortwahl, Satzbau und Grammatik sind begleitet von einer monotonen, leiernden und theatralisch überspitzten Sprechweise.

Als weiteren charakteristischen Zug stellt ASPERGER "ein Missverhältnis zwischen dem Gedanklichen und dem einfachen praktischen Tun" fest. (vgl. FEUSER 1977,71) Ihre Bewegungsabläufe sind häufig abrupt, eckig und wenig koordiniert. Motorische Stereotypien und bizarre Bewegungen gehören auch zu diesem Syndrom. Stereotype Gewohnheiten wie das Sammeln und Ordnen verschiedener Dinge kennzeichnen im Sinne von Sonderinteressen auch ihre durchschnittliche bis überdurchschnittliche Intelligenz.

Von den beiden bisher genannten, die zugleich auch die bekanntesten Syndrombeschreibungen des Autismus sind, lassen sich noch andersartige und doch ähnliche Formen autistischen Verhaltens abheben. NISSEN (1971) unterscheidet dabei den "psychogenen Autismus", den "somatogenen Autismus" und den "Pseudoautismus". (SPECK 1979, 55)

Beim psychogenen Autismus handelt es sich um Formen autistischer Reaktionen als Folge und Begleiterscheinung langandauernder emotionaler Deprivation (Mangel, Entzug von etwas Erwünschtem z.B. fehlende Zuwendung der Mutter, Liebesentzug u.ä.). Es sind jene Kinder, die auch als psychisch hospitalisiert gelten und Symptome der emotionalen Verkümmerung, des Rückzuges in sich selbst, der Abwendung von der Umwelt, der Passivität und sprachliche Entwicklungsstörungen aufweisen.

Diese Formen autistischer Symptome bei benachteiligten Kindern stellen eigentlich einen Pseudoautismus dar. NISSEN wendet diesen Begriff allerdings nur an, wenn Defekte einzelner Sinnesorgane (hochgradige Schwerhörigkeit, Taubheit) oder des Zentralnervensystems (Idotie) vorliegen und diese autistische Symptome zeigen. Gemeint ist im wesentlichen die auffallende Ähnlichkeit zwischen dem frühkindlichen Autismus und autistischen Verhaltensweisen blinder, tauber und taubblinder Kinder.

Beim somatogenen Autismus handelt es sich um Folgeerscheinungen einer Hirnschädigung oder hirnorganischen Erkrankung.

Professor MICHAEL RUTTER (1984, 1985) vom Londoner "Institute of Psychiatry" hat wesentlich zum Verständnis des frühkindlichen Autismus und Sprachbehinderung beigetragen und den Weg zu einer schlüssigeren Sichtweise dieser Behinderung gezeigt. Obwohl auch er diagnostische Punkte aufführt, sind sie umfassender definiert. RUTTER berücksichtigt Unterschiede in der Intelligenz und führt aus, dass der IQ bei autistischen Kindern ebenso wie bei nicht-autistischen Kindern ist. Diese Feststellung ist wichtig, weil sei eine Abkehr von KANNERs Annahme bedeutet, dass autistische Kindern ohne Unterschied eine normale Intelligenz hätten. Dr. ELISABETH NEWSON von der Universität Nottingham hat RUTTERs Kriterien erweitert. Während KANNER auf eine "verzögerte und abweichende Sprachentwicklung" hinwies, sprach sie von einer "Beeinträchtigung in allen Kommunikationsarten", worin Mimik und Gestik einbezogen sind.

Mit der Zunahme der Erkenntnisse über den Autismus hat sich gezeigt, dass dieser keine feststehende und klar abgegrenzte Störung ist, sondern aus einem Spektrum von Schwierigkeiten besteht, mit verschiedenen Mustern möglicher Symptome.

Es hat umfangreiche Erörterungen darüber gegeben, was dem variationsreichen Bild "Autismus" zugrunde liegt. Warum ist ein Kind, das nur wenige der KANNERschen Merkmale zeigt, autistisch? Was hat ein solches Kind mit einem anderen gemeinsam, dessen Behinderung sichtbarer und schwerer ist? Gibt es eine Gemeinsamkeit, was ist das Bindeglied?

UTA FRITH hat einen bemerkenswerten Beitrag zur Beantwortung dieser Frage vorgelegt. Ihre experimentelle Arbeit beruht auf der "theory of mind". Damit wird die Fähigkeit bezeichnet, anderen Personen geistige Zustände zuzuschreiben. FRITH behauptet, dass es genau diese Fähigkeit zur "Mentalisierung" ist, die autistischen Menschen fehlt. Der letzte Abschnitt aus FRITHs Buch fasst einfach und klar zusammen, was die eigentliche Störung beim Autismus ist: "Um diese Kernmerkmale zu identifizieren, mussten wir unter die Oberfläche der Symptome schauen. Dann erst konnten wir den roten Faden entdecken, der sich durch die Befunde zieht. Es ist dies die Unfähigkeit, Informationen so zusammenzufassen, dass sie kohärente und bedeutungshaltige Vorstellungen ergibt. Die Veranlagung der Psyche, aus der Welt Sinn herauszulesen, ist gestört. Genau diese besondere Störung in der 'Mechanik der Psyche' kann die wesentlichen Merkmale des Autismus erklären. Der Rest ist sekundär. Wenn wir diese Tatsache aus dem Auge verlieren, verfehlen wir auch den übergreifenden Zusammenhang". (vgl. FRITH 1992, 202)