Symptomatik

"Ein Teil der Faszination, die von diesen Kindern ausgeht, liegt darin, dass sie wie Kinder von einem anderen Planeten wirken. Das Mysterium und die Magie sind aber eine Illusion. Viele Menschen, die diesen Kindern begegnen, haben das Gefühl, es müsse irgendwo einen Schlüssel geben, der einen verborgenen Schatz freigeben wird. Wer Geduld und Geschick hat, wird tatsächlich einen Schatz finden, aber die Münze wird alltäglich und menschlich sein, nicht pures Gold." (J.K. Wing)

Einführung

Extreme autistische Einsamkeit

Wahrnehmung

Zwanghafte und rituelle Handlungen

Sprachauffälligkeiten

 

Einführung

Das typische Erscheinungsbild von Kindern, die an frühkindlichem Autismus leiden, ist äußerst überraschend. Wer mit dem Erscheinungsbild von Kindern, die an anderen schweren Entwicklungsstörungen leiden, vertraut ist, weiß, dass diese Kinder behindert aussehen. Im Gegensatz dazu verblüfft das autistische Kleinkind den Betrachter in den meisten Fällen "durch seine betörende Schönheit, die nicht von dieser Welt zu sein scheint" (vgl. FRITH 1992, 11). Man kann sich kaum vorstellen, dass sich hinter dem puppenhaften Aussehen ein subtiler, jedoch verheerender Defekt verbirgt, der für das Kind ebenso entsetzlich ist wie für seine Familie.

Um was für einen Defekt handelt es sich? Wie kann man seine vielen paradoxen Merkmale erklären? Um diese Frage zu beantworten, muss man gleich zu Beginn eine Reihe von Missverständnissen klären. Das erste besteht in dem Glauben, Autismus sei eine Störung, die ausschließlich im Kindesalter auftritt. In der Tat manifestiert sich der Autismus bereits in der Kindheit, er ist jedoch keine kindliche Störung. Er stellt vielmehr eine Entwicklungsstörung dar.

Man darf Autismus nicht wie in einer Momentaufnahme betrachten. Da diese Störung die gesamte psychische Entwicklung beeinflusst, sehen die Symptome in verschiedenen Altersstufen unterschiedlich aus. Bestimmte Merkmale treten erst später in Erscheinung, andere verschwinden mit der Zeit. In der Tat finden enorme Veränderungen statt. Der soziokulturelle Hintergrund beeinflusst nicht die grundlegende Eigenart der Symptome, sondern nur ihre Erscheinungsformen. Er beeinflusst auch nicht den grundsätzlichen Verlauf der Störung, sondern nur ihre untergeordneten Details. Diese Einsicht ist nicht neu. Schon vielfach ist das Erstaunen darüber formuliert worden, wie stark autistische Kinder einander ähneln, sogar wenn sie aus verschiedenen Ländern und sozialen Gemeinschaften kommen. Damit kann ein weiteres Missverständnis hinsichtlich des Autismus ausgeräumt werden: Autistische Kinder werden nicht von Eltern, die sie nicht genügend lieben, autistisch gemacht. Autismus ist ein seltenes und tragisches Ereignis, das jeden Menschen, jede Familie ohne Vorwarnung treffen kann. Sein biologischer Ursprung liegt wahrscheinlich weit vor der Geburt. (FRITH 1992, 12)

Am auffälligsten ist, dass das klinische Bild des autistischen Kleinkindes sich auf verschiedenen Altersstufen stark unterscheidet. Veränderungen sind nicht von der Hand zu weisen. Es gibt Hoch und Tiefs, Rückschläge und Fortschritte. Ebenso kann ein autistisches Kind sehr begabt sein, nichts desto trotz ist es immer noch behindert. Das ist traurig und merkwürdig rätselhaft zugleich. Die psychische Entwicklung wird nicht nur verzerrt und verzögert, sondern, wenn ihr Ziel die Reife ist, dann wird dieses Ziel niemals erreicht. Dagegen vollzieht sich die körperliche Reifung bis zum Ende. In isolierten Bereichen kommen sogar herausragende Leistungen vor. Man findet beträchtliches Wissen und Beherrschung verschiedener Fähigkeiten. Obwohl Voraussetzungen für ein normales Erwachsenenleben vorhanden sind, bleiben die Existenzmöglichkeiten für einen autistischen Menschen meist begrenzt und außerhalb des Üblichen. (FRITH 1992, 16).

Auf den ersten Blick sind autistischen Kindern ihre Wahrnehmungsverarbeitungs- und Beziehungsstörungen nicht anzusehen. Viele sind ernst, traurig, in sich versunken. Andre wirken dagegen eher selbstgenügsam heiter - solange man sie nicht bei ihrer Lieblingsbeschäftigung unterbricht. (JANETZKE 1993, 13)

In wissenschaftlichen Veröffentlichungen werden autistische Kinder immer wieder mystifiziert. Sie werden als Kinder beschrieben, die hinter einer gläsernen Wand oder nicht in dieser Welt leben, als verzweifelt nach Ordnung suchende Wesen, die sich nach Kontakt sehnen und im eigenen ICH gefangen sind. Dabei kann jeder, der ein autistisches Kind beobachtet, schnell erkennen, dass das Kind durchaus in der Lage ist, Ordnungen und Regelmäßigkeiten der Umwelt zu identifizieren, Kontakt zu Personen und Gegenständen aufzunehmen und handelnd in diese Welt einzugreifen. Allerdings tun autistische Menschen dies oft auf eine andere, ihnen eigene Art und Weise. (DZIKOWSKI 1993, 8)

 

Extreme autistische Einsamkeit

Das Hauptsymptom, der eigentliche Autismus, die Abkapselung von der menschlichen Umwelt, ist häufig schon im ersten Lebensjahr erkennbar. Das Kind antwortet dem Blick der Mutter nicht mit einem Lächeln, es streckt ihr nicht die Ärmchen entgegen, wenn sie es aufnehmen will. 'Normale' Kinder versuchen mit Gurlauten, Schreien oder aufgeregtem Gebaren die Aufmerksamkeit der Eltern oder Bezugspersonen zu erregen, autistische Kinder nehmen von sich aus nur selten Kontakt zu anderen Menschen auf. Autistische Kinder können sich stundenlang allein beschäftigen, deshalb gelten sie häufig als "brave Babys" (DAVISON/NEALE 1988, 540), weil sie kaum Ansprüche stellen.

Auch später zeigen die Kinder kein Interesse an anderen Kindern, Gleichaltrigen oder Erwachsenen. Sie äußern ihre Gefühle kaum und zeigen auch wenig Zuneigung oder Zärtlichkeit für andere Menschen. Ihren Mitmenschen gegenüber entwickeln sie äußerlich kaum Sympathie bzw. Mitgefühl. Zwingt man diesen Kindern aber Zärtlichkeiten oder Körperkontakt auf, so kann es zu starken Abwehrreaktionen kommen. (KUTSCHER 1994, 12) Autistische Menschen bevorzugen Naherfahrungen durch Riechen, Tasten und durch Mundkontakt.

Die mangelhafte soziale Entwicklung des autistischen Kindes zeigt sich nicht nur in der fehlenden Bindung an die Eltern. Es geht auch fast nie auf andere Menschen zu, sondern schaut scheinbar durch sie hindurch oder an ihnen vorbei. Allerdings benutzt es Menschen als Werkzeuge: das Kind führt die Hand des anderen zu einem Gegenstand, um diesen zu ergreifen.

 

Wahrnehmung

Autistische Kinder haben oft Störungen in den fünf Sinnesbereichen. Häufig werden sie erst für taub und/oder blind gehalten. (KUTSCHER 1994, 12)

Diesen Kindern fehlt der Überblick, um selektiv wahrzunehmen, zu vergleichen oder zu bewerten und sich für bestimmte Wahrnehmungselemente zu entscheiden. Um von der Reizvielfalt der Umwelt nicht überflutet zu werden, reagiert ihr Wahrnehmungsmechanismus "überselektiv": Der Wahrnehmungsblickwinkel ist so eingeengt, dass ihre Sinne nur eine winzige Einzelheit aufnehmen, die sie dann aber außerordentlich genau registrieren. Als Folge des eingegrenzten Wahrnehmungsfeldes erscheinen sie oftmals gehörlos und können auch Gefahren nicht erkennen. Selten ist die Hörfähigkeit jedoch wirklich beeinträchtigt. (JANETZKE 1993, 16)

Zu den Verhaltensweisen, die bei autistischen Entwicklungsstörungen zusammentreffen, gehören vor allem das Nichtreagieren auf bestimmte, oft laute Geräusche (auch Sprache), andererseits horchen sie häufig bei speziellen, oft leisen Tönen auf. Außerdem reagieren sie nicht auf besonders auffällige optische Reize, aber bevorzugen dagegen oft ganz bestimmte Reize (Lichtreflexe, Glitzern, Spiegelungen usw.), die möglicherweise durch Gegenstände erzeugt erden (können), wie Bewegungen (blättern) von Buchseiten, Kreiselnlassen von Spielzeug. Es besteht manchmal auch eine Vorliebe für optisch-strukturelle Muster auf Teppichböden, bei Puzzeln, an  Tapeten oder für winzige Krümel, kleine Flusen, Falten der Kleidung und herabhängende Fäden. (DZIKOWSKI 1993, 9)

Oft tritt bei Autisten auch der Eindruck der Unempfindlichkeit gegenüber Hitze-, Kälte-, Schmerz- und unangenehmen Geschmacksreizen auf. Zudem können sie dazu neigen, sich selbst Schmerzreize zuzufügen (z.B. den Kopf gegen harte Gegenstände schlagen, Augen/Ohren bohren, Wunden aufkratzen). Für DELACATO (1985, 9) scheint es, "als habe eine außermenschliche Macht von ihnen Besitz ergriffen und zwingt sie, die bizarren Formen der Selbstzerstörung am eigenen Leibe zu vollziehen."

Häufig beobachtet man bei autistischen Kindern Störungen, die mit der Nahrungsaufnahme und der Darmentleerung zusammenhängen. Das gestörte Essverhalten äußert sich im mangelnden Kauen, eigentümlichen Vorlieben von Lebensmitteln (z.B. über einen längeren Zeitraum nur Joghurt essen). Zusätzlich beobachtet man auch unmäßiges Essen und das Verschlingen von nicht essbaren Dingen (z.B. Zigaretten oder Tapeten). Außerdem kann die Ausscheidung bei autistischen Kindern gestört sein. Unabhängig vom Einnässen und Einkoten im Zusammenhang mit einer Entwicklungsstörung gibt es vor allem Stuhlverhaltungen. Der Stuhl wird mehr oder weniger bewusst, vielleicht auch zwanghaft zurückgehalten. Er wird nur unter ganz bestimmten Bedingungen und dadurch sehr selten entleert.

Diese Symptome hängen wahrscheinlich mit der gestörten Wahrnehmungsverarbeitung zusammen. Dabei können Hunger- und Durstgefühle und die Wahrnehmung des gefüllten Enddarms nicht normal sein. Irgendwie werden von dem Autisten nicht nur die Reize aus der Umwelt, sondern auch diejenigen aus dem eigenen Körper in gestörter Weise wahrgenommen. (KEHRER 1989, 43-44)

 

Zwanghafte und rituelle Handlungen

Verändern sich gewohnte Umweltbedingungen, so reagieren Autisten heftig, mitunter sogar verzweifelt. Die Stellung der Möbel in der Wohnung, die Ordnung der Spielsachen im Schrank darf nicht verändert werden. Stets muss beim Frühstück z.B. die Marmelade rechts vom Kind stehen und eine rote Farbe haben. Ist das einmal nicht so, kann das Autoaggressionen oder Stereotypien hervorrufen. Stereotypien äußern sich in Form von Hand-, Finger-, Kopf- oder Körperbewegungen wie Klopfen, Schlagen, Schaukeln oder Hüpfen, die über einen längeren Zeitraum anhalten.

Wenn sich Autisten aggressiv oder selbstschädigend verhalten, tun sie dies zumeist in Situationen höchster Not. Ihr aggressives Verhalten entspricht dem eines in die Enge getriebenen Tieres. Die Autoaggressionen wiederum verkörpern lediglich umorientierte Aggressionen: Da ein Angriff auf die als Bedrohung empfundene Person oder Sache nicht gewagt wird, richtet sich die unkontrollierte Verzweiflung gegen die eigene Person. (M. KLONOVSKY in B. SELLIN 1993, 30)

Man nimmt an, dass die Stereotypien nicht nur eine Schutzfunktion darstellen, sondern darüber hinaus den nach außen gekehrten Ausdruck eines inneren Konflikts verkörpern. Der amerikanische Arzt DELACATO bezeichnet die Ritualhandlungen als "verzweifelten Hilfeschrei", den die Autisten aussenden. Beobachtungen haben ergeben, dass die Intensität der Stereotypien in Situationen zunimmt, die von den Betroffenen als Gefahr wahrgenommen wird. ELISABETH und NIKO TINBERGEN vermuten hinter den Stereotypien einen permanenten Motivationskonflikt: Der Autist will eine Handlung ausführen, fühlt sich aber dazu nicht in der Lage und schreckt zurück. Der innere Schwebezustand wird durch die Stereotypien nach außen kanalisiert. (M. KLONOVSKY in B. SELLIN 1993, 29)

In unmittelbaren Zusammenhang mit der Veränderungsangst der Kinder steht ihr enges Verhältnis zu Gegenständen der unbelebten Welt. Lichtschalter, Waschmaschinen, Füllfederhalter, Klötze, Murmeln, Schachteln usw. ziehen sie unwiderstehlich an, während andere Menschen, als solche für sie gar nicht existieren. Jedes autistische Kind wählt sich andere Dinge aus, für die es sich interessiert. Das eine sitzt stundenlang vor dem vibrierenden Ventilator, das andere vor einer angeschalteten Waschmaschine. Fast allen gemeinsam ist die Vorliebe für fließendes Wasser.

Außerdem besteht eine übermäßige Bindung an Einzelobjekte, die nicht verwechselt werden dürfen mit einer erwarteten Beziehung zu einem Lieblingsspielzeug. Einige Kinder tragen immer einen Gegenstand mit sich herum, wohin sie auch immer gehen. Zusätzlich können sich autistische Kinder Sammlungen von Dingen zulegen. Unter der Voraussetzung fortgeschrittener Entwicklung können das auch geistige Gegenstände sein wie das mechanische Wiedergeben eines Fahrplans oder eines kurzen Gedichtes. (KUTSCHER 1994, 13)

Autistische Kinder haben oft eine ungemeine Geschicklichkeit, selber bestimmte Gleichgewichts- und Bewegungszustände hervorzurufen. BARRY N: KAUFMANN (1981, 5) beschreibt ein solches Phänomen, welches sein autistischer Sohn Raun vollbringt: "Seine kleinen Hände halten vorsichtig den Teller: Mit den Augen misst er das Rund und seine Lippen kräuseln sich vor Vergnügen. Er bereitet seinen Auftritt vor - dies ist allein sein Augenblick, wie der letzte es war und jeder Augenblick davor. Er taucht in die Einsamkeit weg, die seine Welt geworden ist. Langsam, mit der Hand eines Meisters, platziert er den Teller mit dem Rand auf dem Boden, nimmt eine bequeme Haltung ein, balanciert aus und setzt ihm mit einem fachmännischen Dreh des Handgelenks in Bewegung. Der Teller beginnt mit großer Perfektion zu kreiseln. Er dreht sich um sich selbst, wie wenn er von einer genau berechnenden Maschinerie in Bewegung gesetzt worden wäre. Und so war es auch."

 

Sprachauffälligkeiten

Ein Kernsymptom des Autismus ist die mangelhafte Sprache, die entweder ganz fehlt, durch zusammenhangloses stereotypes Wiederholen von Worten gekennzeichnet ist (Echolalie) oder auch durch sinnlose Wortkompositionen (Neologismen). Die Sprachentwicklung zeigt ganz besondere Eigentümlichkeiten. Fast immer tritt sie verspätet auf. Die Sprache kann aber auch nach einer anfänglich "normalen" Entwicklung nach und nach wieder zurückgehen.

Große Schwierigkeiten haben autistische Kinder mit dem Wort 'Ich'. Der Punkt, der in der normalen kindlichen Entwicklung des Ichbewußtseins dadurch markiert wird, dass das Kind sich selbst als 'Ich' bezeichnet, wird entweder sehr spät oder gar nicht erreicht. Auf dem Weg zu dem Pronomen 'Ich' tritt eine charakteristische Ausdrucksweise auf, die "pronominale Umkehr". 'Ich' und 'Du', überhaupt die auf die erste und zweite Person bezüglichen Fürwörter werden vertauscht.

Der Aspekt der Kommunikations- und Sprachstörung bei autistischen Kindern wird noch näher unter dem Punkt Sprache behandelt!