'Theory of mind'
"Theory
of mind“ - Ursache der Kommunikationsstörung?
Um
die spezifischen Beeinträchtigungen des frühkindlichen Autismus zu erklären,
ist es erforderlich,
die dahinterliegenden Mechanismen unabhängig vom IQ zu betrachten. (HERMELIN
& O’CONNOR 1970; FRITH 1982; RUTTER 1983) Lange Zeit hatte niemand eine
Vorstellung, wie derartige Mechanismen zu beschreiben sind. LESLIE (1984) hat
ein „Modell der metarepräsentationalen Entwicklung“ aufgestellt. Dieses
Modell spezifiziert einen Mechanismus, welcher einem entscheidenden
Gesichtspunkt der sozialen Fähigkeit unterliegt, nämlich in der Lage zu sein,
die geistige Beschaffenheit eines anderen Menschen zu begreifen. Konkret heißt
das, sich bewusst sein, das andere Menschen wissen, wünschen, fühlen oder an
Dinge glauben; kurzum haben, was PREMACK und WOODRUFF (1978) als eine „theory
of mind“ bezeichnen. Sie definieren die „theory of mind“ als Vermögen,
sich und anderen geistige Zustände zu unterstellen. Die Fähigkeit, Schlussfolgerungen
zu ziehen, woran andere Menschen in gegebenen Situationen glauben, erlaubt einem
vorauszusagen, was sie tun werden. Es handelt sich hierbei um einen
entscheidenden Bestandteil der sozialen Fähigkeit. (BARON-COHEN et al. 1985,
39) Bei normalen Kindern scheint sich die „theory of mind“ schon während
des ersten Lebensjahres zu entwickeln und in der frühen Kindheit an Komplexität
zu gewinnen.
BARON-COHEN
(1992, 10) ist der Meinung, dass die „theory of mind“ eine gute Hilfe ist, dass
Sozialverhalten zu verstehen. Für diejenigen, die „für
die Existenz von Bewusstseinszuständen blind“ sind, müsste also „die
soziale Welt chaotisch, verwirrend und sogar angsterregend erscheinen“.
Der Autor hält es für möglich, dass dies sie sogar dazu bringen könnte, sich
völlig von der Umwelt zurückzuziehen oder aber „zu
seltsamen Interaktionsversuchen mit anderen Menschen führen“ kann, da
andere sie behandeln würden, als hätten diese Menschen kein Bewusstsein, „und
sich ihnen gegenüber daher in einer ähnlich Art verhalten [...], wie man mit
unbelebten Objekten umgeht“. Da sich autistischer Kinder vergleichbar
verhalten, können bei ihnen Abweichungen ihrer „theory of mind“ bestehen.
Um
zu überprüfen, wie normale Kinder den Bewusstseinszustand „Annahme“
verstehen, entwickelten WIMMER und PERNER (1983) einen Test, der auf einer
Puppengeschichte beruhte, in der eine Figur eine falsche Annahme hat, die daher
von der des Kindes verschieden ist. Die Kinder haben den Test dann bestanden,
wenn sie zeigen, dass sie die abweichende Annahme der Figur aus der Geschichte
berücksichtigen und deren Handlung, die auf einer falschen Annahme beruht,
vorhersagen können.
BARON-COHEN,
LESLIE und FRITH (1985) legten diesen Test Kindern mit Autismus, geistiger
Behinderung (Diagnose: Down-Syndrom) und einer Gruppe normaler Kinder vor. Das
Ergebnis war, dass 86% der Down-Syndrom-Kinder und 85% der normalen Kinder
diesen Test bestanden, aber nur 20% der Autisten, und das, obgleich diese Gruppe
ein höheres geistiges und chronologisches Alter hatten. Diese Untersuchung
unterstützt vorläufig die Hypothese, dass beim Autismus Abweichungen in der
Entwicklung einer „theory of mind“ bestehen bzw. sogar völlig fehlt. Die
Ergebnisse zeigen außerdem, dass solche Defizite eher autismusspezifisch sein müssen
und nicht aus einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung heraus entstehen. Den
Autisten kann auch nicht eine generelle geistige Retardierung zugeschrieben
werden, da die stärker retardierten Down-Syndrom-Kinder die Aufgabe an der
Obergrenze abschlossen. Dieses kognitive Defizit, ist also unabhängig vom
intellektuellen Level und vermag einen Mangel an symbolischem Spiel und sozialer
Beeinträchtigung erklären. (BARON-COHEN et al. 1985, 44)
Bei
allen Untersuchungen zur „theory of mind“ besteht eine Untergruppe von 30%
der autistischen Kindern den Test, die ein geistiges Entwicklungsalter (verbal
oder nichtverbal) von mehr als 4 Jahren haben. Daraus wird ersichtlich, „dass
eine ‘theory of mind’ nicht durchgehend bei allen Kindern mit Autismus
beeinträchtigt sein kann. Eine Hypothese, die man vorgebracht hat, lautet, dass
es bei der Entwicklung einer ‘theory of mind’ beim Autismus eine Verzögerung
geben könnte, dass
also alle Kinder mit Autismus diese Fähigkeit spät entwickeln, dass
sie aber nach einer ernsthaften Verzögerung bei manchen zum Vorschein kommen
kann“. (BARON-COHEN 1992, 14)
Bevor
die Schlussfolgerung gezogen werden kann, dass beim Autismus das Defizit nur auf
die „theory of mind“ begrenzt ist, müsste ausgeschlossen werden, dass
andere Aspekte der sozialen Wahrnehmung nicht gestört sind. Untersuchungen
haben gezeigt, dass Kinder mit Autismus bei einer Reihe von Aufgaben zur
sozialen Wahrnehmung nicht beeinträchtigt sind. Sie sind in der Lage, sich und
Gleichaltrige zu erkennen, die eigene Person von anderen Menschen auseinander zuhalten,
unbelebte Objekte von belebten zu unterscheiden und soziale Beziehungen
wahrzunehmen. Sie wissen außerdem, dass Menschen weiterhin existieren, auch
wenn sie nicht sichtbar sind (Personenpermanenz). Zudem können autistische
Kinder beurteilen, was jemand anderes sehen kann. (BARON-COHEN 1992, 13)
Das
Defizit der „theory of mind“ steht also im Widerspruch zu den nicht beeinträchtigten
Fähigkeiten der sozialen Wahrnehmung. Aus diesen Ergebnissen schließt
BARON-COHEN (1992, 14), dass die Beeinträchtigung nicht darin liegt, sich nicht
in die Gedanken anderer einfühlen zu können, sondern in der Wahrnehmung.